Ein Brief von Hermann Stehr an seinen Sohn vom Jahr 1902



Mein lieber Willy, es ist vielleicht das erste und letzte Mal, daß ich an Dich schreibe, und wenn Du alles verstehst , was ich Dir sage, scheint die Sonne, die eben ihr Licht voll in meine Stube sendet, über mein Grab.

Es ist sieben Minuten nach halb zwei, eines Nachmittags am 7. Februar in der Dachstube eines Mietshauses in Dittersbach, das die Nummer 101 trägt 1902.

Mein liebes Kind ! Ich hätte gern das alles durch mein Leben in Deine Seele gesenkt und als bester Freund geholfen, daß es darin Wurzeln schlagen und wachsen und Du in seiner Hut in der Unsicherheit des Lebens einen Halt habest. Aber es soll wohl nicht sein; ich fahre Sonntag nach Berlin zur Operation, die mein Leben mitten in der Blüte stürzen kann.

Drum höre, und wenn Dir manches falsch oder schief vorkommt, so habe ich nicht nötig, Dich um Nachsicht zu bitten, denn auch ich bin, noch nicht abgeschlossen; aber ich habe mich alle Tage meines bewußten Lebens um die Größe und Reinheit meiner Seele bemüht.

Sei Deiner Mutter untertan, Du weißt nicht, was alles sie um Dich gelitten hat. Solltest Du je an ihr einen Fehler, eine Schwäche entdecken, so denke an die Sonne, die auch Flecken hat und doch alles Leben hervorbringt. Deine Seele aber lebt von Deiner Mutter, liebe sie aus Deinem ganzen Herzen und sorge für sie in ihrem Alter in aller Ehrfurcht und Demut. Du bist gerade so viel wert als Deine liebe zu Deiner Mutter.

Erfülle Deine Pflichten genau und gestatte Dir nie und in keinem Falle eine Ausnahme. Nur wer gelernt hat gegen andere treu zu sein, kann erwarten, seine eigenen Vorsätze so zur Ausführung zu bringen, wie sie in ihm aufgestiegen sind.

Such Dir die Wertschätzung der Menschen zu erwerben, die Du verehrst; verfalle nie dabei in Liebedienerei, denn Dein ehrliches Streben redet für Dich ohne deinen Mund.

Dein Freund stehe nie in seiner Seele unter Dir; aber wähle Deine Kameraden nie nach ihrem Rock.

Nicht was Du bist, wie Du bist, ist alles; Dein Wert und Dein Glück, Geld Gut und Stand hat nur den Wert der Person, die es besitzt.

Fürchte Dich vor niemandem, als vor Dir, Dein Mut sei höflich und Deine Liebe furchtlos. Verspotte niemand, weil dadurch Du nur Dich beschimpfst.

All Dein Wissen, steige in dein Herz; nur was Du fühlst, hast Du gelernt.

Dein Leib sei Dir ein Heiligtum. Stärke und härte ihn ab. Schände ihn nie durch Laster, schwäche ihn nie durch Lüste. Deine Seele, Dein Leben, alle die Deinen sind glücklich, oder unglücklich durch ihn.

Der Zorn ist die Stärke der Dummen und Schwachen. Die Rachsucht ist die Gerechtigkeit der Gemeinen. Die Hand, mit der Du einem anderen wehe tust, verwundet Dich am tiefsten.

Gott ist immer bei Dir, in ihm steht alles. Niemand hat ihn gesehen, alles ist sein Gleichnis. Er redet laut und vernehmlich in den stillen Stunden zu Dir. Lerne auf ihn lauschen, er redet Dein tiefstes Glück; was er Dir sagt, vollziehe es ungesäumt und ernst.

Was Dir innerlich zuwider ist, nur das ist schlecht, und alles Schöne ist gut. Dein Gott ist ein einsamer Gott niemand außer deiner Seele kann ihn sehen, darum kannst Du niemand danach fragen. Wenn Du groß und verständig genug sein wirst, lies den Philosophen Emmerson.

Zweifle nie aus Eitelkeit, das ist das größte Unglück.

Liebe alle Menschen. Es gibt keinen Schlechten, es gibt nur Unglückliche. Des Lebens Glück ist Natur und Kunst, aber nur wenn Du ihnen ernst und treu und beharrlich dienst, werden sie zu Dir reden. O mein Kind, mein Kind - noch nie ist ihre Süßigkeit ausgeschöpft, je tiefer Du dringst, desto heiliger wird Dein Leben; sie führen Dich dem unaussprechlichen Geheimnis am nächsten.

Zum Ende, mein Kind, sei froh und harmlos; Du kannst nichts wenden, kein Gram, keine Sorge ändern Dein Schicksal; allein Deine sichere Heiterkeit schafft Dir auch in mißlichen Lagen Halt.

Wisse, Du hast kein Ziel als Dich.

Nun küsse ich Dich tausendmal. Mein Schatten ist um Dich in allen Stunden Deines Lebens. O Gott, möchte er nie voll Gram auf Dich schauen, sondern immer freundlich und segnend.

Alles das gilt auch für mein liebes, liebes Urselkindchen. Lebt wohl!

Euer Vater

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Vor 106 Jahren schrieb Hermann Stehr angesichts einer bevorstehenden Operation an seinen Sohn Willy mit der Anschrift:

Dieser Brief darf nur im Falle meines Todes geöffnet werden, man gebe ihm dem Knaben, sobald er verständig ist.“

Er hat seinen Empfänger nie erreicht. Stehr überstand die Operation, und der Sohn Willy fiel im ersten Weltkriege. Man fand den Brief erst im Nachlass von Hermann Stehr, und er wurde in der Sendung „Das Bild des Monats Februar“, am 07.02.1954 vom Süddeutschen Rundfunk zum erstenmal einer größeren Öffentlichkeit unterbreitet. Wie seinerzeit des Mathias Claudius Brief an seinen Sohn Johannes ist er die auf die einfachste Formel gebrachte Zusammenfassung der gültig nicht nur für die, an die er zunächst gerichtet war, sondern weit darüber hinaus für alle jungen Menschen und – für uns alle.



Entnommen aus „Schles,Bergwacht“, SB1964/N04/S58

Abschrift v. W.Schön, Mail: genealogie@wimawabu.de 01.11.08